|
Alpine Ekstase
Das Schweizer Duo "Stimmhorn"
im Esslinger Kulturzentrum Dieselstraße
Rezension für die Eßlinger Zeitung
vom 18. Dezember 2007
Obertongesang ist geheimnisvoll und ein bisschen
gespenstisch. Über klaren, lang angehaltenen Tönen wird
plötzlich zartes Pfeifen hörbar, das lustig seiner eigenen Wege
geht. Es erinnert eher an das Singen einer Aeolsharfe als an die
menschliche Stimme und scheint nicht ganz von dieser Welt. Der
Schweizer Stimmkünstler Christian Zehnder – bekannt auch durch
den Film "Heimatklänge" – beherrscht diese Kunst perfekt, gibt
sich damit aber nicht zufrieden. Er kombiniert dieses zarte
Pflänzchen der Sangeskunst mit seinem genauen Gegenteil: der
archaischen, wuchtigen Technik des alpinen Jodelns, die ihren
Charme dem Kehlkopfschlag, dem harten Wechsel zwischen Kopf- und
Bruststimme verdankt. Und er bedient sich grundlegender, auch
derber Artikulationsarten, die ihren Ursprung in Emotionen wie
Wut, Ekel, Aggression, Freude oder Ekstase haben. Er kommt dabei
ohne Wörterbuch aus, äußert sich in Buchstabenfolgen wie
"woschnuhi", "wjandrio" oder "burrlitriolodiho" und findet auf
diese Weise viel mehr Zwischentöne als der wortgebundene Gesang.
Zehnders Stimme kündet von Verzweiflung und Trauer, von Träumen
und Vergänglichkeit, von Finsternis und Licht und dem ewige
Kreislauf des immer Gleichen. Und sie lässt niemanden kalt.
Im ausverkauften Kulturzentrum Dieselstraße folgte man
deshalb atemlos, von gelegentlichen Lachern unterbrochen, den
Grenzüberschreitungen und Alpüberquerungen des Duos "Stimmhorn".
Denn Zehnder arbeitete nicht alleine, sondern zusammen mit
seinem kongenialen Eidgenossen Balthasar Streiff, der dem
mächtigen Alphorn eine vielschichtige Seele einhauchte und auch
dessen Geschwistern die feinsten, intimsten Tongirlanden
entlockte: Er wechselte virtuos zwischen Ziegenhorn und Kornett,
zwischen einem Alphorn und zweien auf einmal, zwischen Büchel,
das aussieht wie ein stark abstrahiertes Riesen-Tenorsaxophon
aus Holz, und Alpofon, das eine ranke und schlanke Streiff-Erfindung
ist. Ob traurige Jazzmelodien, stampfende Rhythmen oder
zärtliches Miauen: Streiff packt sie alle.
Der Blasakrobat treibt den Instrumenten aber auch seine
eigene Stimme ein, öffnet damit die Tür zu einer polyphonen
Klangwelt, die in Wettstreit tritt mit Zehnders Vokalkunst. Die
Unterschiede zwischen menschlicher Stimme und Hörnerklang
verschwimmen mehr und mehr. "Stimmhorn" ist eben nicht nur ein
Wortspiel, sondern Omen.
Einem bestimmten Stil oder gar der Rubrik E- oder U-Musik
ist das nicht zuzuordnen. Fern aller Schubladen ist "Stimmhorn"
vor allem kommunikativ und experimentell. Wie das Jodeln seinen
Ursprung in dem Bedürfnis der Menschen hat, sich in zerklüfteten
Landschaften über große Entfernungen zu verständigen, so hören
die beiden Musiker in die Stimme des anderen hinein wie in ein
Naturereignis. Das wird komödiantisch genutzt und findet im
"alpinen Improvisieren" seinen Höhepunkt: Der eine imitiert den
anderen, nicht ohne das mimisch zu kommentieren.
"Stimmhorn" entführt in eine Klangwelt, die fremd und doch
vertraut ist. Vertraut weil sie unsere Gefühlswelt
widerspiegelt, fremd weil alles hier eben anders funktioniert.
So spielt Zehnder selbstverständlich keine Gitarre, sondern eine
Bandurria. Und sein Akkordeon ist nur ein halbes: Eine seltsame
Konstruktion, die er hochkant an den Oberschenkeln festgurtet
und dann mit beiden Händen knopfdrückend nach oben zieht.
Und "Stimmhorn" vereint extreme Kontraste, changiert
zwischen Meditativem und verzweifelter Hektik, zwischen sanftem
Obertonsäuseln und markigem Alpenblues, an dem Muddy Waters
seine Freude gehabt hätte. Ist zuweilen irrsinnig komisch,
unglaublich theatralisch – und immer sehr berührend.
In der Dieselstraße dankte man den großartigen Musikern, die
sich in 75 Minuten völlig verausgabt hatten, mit frenetischem
Applaus.
© Verena Großkreutz
|

|
|