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"Ich glaube an Musik, die Wurzeln hat"
Krzysztof Penderecki und
seine 8. Symphonie
Beitrag für die Zeitschrift der
Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Ausgabe November 2006
In Thomas Bernhards Roman "Der Untergeher" sieht sich der Pianist
Glenn Gould eines Tages gezwungen, eine ihn "im Klavierspiel hinderliche
Esche vor seinem Fenster" kurzerhand zu fällen. Später geht ihm auf,
dass er sich diese Tat hätte ersparen können: Er hätte einfach die
Rolläden herunterlassen sollen. Versteht man den Eschenfäller als ein
treffliches Bild für einen radikal rücksichtslosen und verstörenden
Künstler, so scheint es kein Zufall gewesen zu sein, dass der polnische
Komponist Krzysztof Penderecki ein genau gegenteiliges Verhalten just zu
der Zeit an den Tag legte, da er sich von der Avantgarde endgültig
verabschiedete: Mitte der 1970er Jahre kaufte er sich ein Landgut in
Luslawice, das 100 Kilometer östlich von Krakau gelegen ist, und begann
dort Bäume zu pflanzen, sie mit Liebe und Ausdauer zu hegen und zu
pflegen.
Es entstand ein Arboretum, ein Baumgarten, in dem mittlerweile 1500
verschiedene Arten zu bewundern sind. Die meiste Zeit des Jahres ist
Penderecki zwar unterwegs auf Konzertreisen, denn er bringt seine Werke
gerne selbst zur Aufführung. Doch zwei bis drei Monate im Jahr lässt er
sich von seinen Bäumen inspirieren. Im "Rhythmus der Natur", zwischen
zwitschernden Vögeln, die die Kronen von Ahorn, Linde und Gingko
bevölkern, arbeitet es sich entspannt.
Wege
durchs Labyrinth
Ja, Krzysztof Penderecki ist ein Bäumesammler, kein Eschenfäller.
Und mit der Liebe zum Verwurzelten ging auch seine künstlerische
Entwicklung einher: Mit Werken wie "Anaklasis" (1959/60) oder "Threnos"
(1961), in denen er mit Geräuschen und Clusterklängen experimentierte,
wandte er sich zunächst der Avantgarde zu, um dann mehr und mehr zu
einer letztlich traditionellen Musikauffassung zu gelangen: "Ich glaube
an Musik, die Wurzeln hat. Und die europäische Musik hat Wurzeln, die
man nicht vergessen darf – wenn man es kann. Ich bin ein ernster
Komponist, der die Welt so sieht, wie sie vielleicht heute gar nicht
mehr da ist, wie sie in meiner Kindheit war. Die Welt geht in eine ganz
andere Richtung, und wenn man da nicht mehr mitmachen will, muss man
sich vielleicht in seinem Labyrinth verstecken und sich dort seine Wege
suchen – und Umwege vor allem", so der Komponist in einem Interview im
Jahr 2003. Einer dieser Wege führte ihn in die Formenwelt der Klassik
und Romantik zurück und in eine Tonsprache, die sich weitgehend an der
Spätromantik orientiert.
Wie eine
offene Partitur
In der Pflege und dem Ausbau seines Baumparkes sieht Penderecki
direkte Parallelen zum Symphonienschreiben: "Solch ein Park ist wie eine
offene Partitur: Man muss in großen Zusammenhängen denken und weit im
Voraus planen. Denn die meisten Bäume brauchen 50 Jahre, um voll
auszuwachsen." Es war also nur eine Frage der Zeit, dass der Komponist
die Spezies Baum und die Gattung Symphonie einmal zusammenbringen würde.
Das hat Penderecki in seiner 8. Symphonie ungesetzt, die am 26. Juni
2005 zur Eröffnung der Luxemburger Philharmonie uraufgeführt wurde.
"Lieder der Vergänglichkeit" nannte er diesen Liederzyklus für drei
Solisten (Sopran, Mezzosopran, Bariton), gemischten Chor und Orchester.
In neun Sätzen werden deutschsprachige Gedichte von Johann Wolfgang von
Goethe, Achim von Arnim, Joseph von Eichendorff, Karl Kraus, Rainer
Maria Rilke und Hermann Hesse vertont, in denen Bäume Anlass der
poetischen Reflexion sind. Penderecki setzte damit jene Tradition fort,
die die Gattung Symphonie, entgegen ihrer ursprünglichen Idee, mit dem
Wort und der menschlichen Stimme verbindet. Seit Beethovens Neunter
Symphonie ist das legitim und bietet den Komponisten die Möglichkeit,
dem Publikum über den abstrakt-instrumentalen Verlauf hinaus eine
direkte Botschaft zu vermitteln und darüber hinaus das Geschehen
emphatisch zu steigern. Im Falle der Gattung Symphonie, mit der sich die
Komponisten schon immer an die große Öffentlichkeit wandten, ein
entscheidender Aspekt.
Fällen,
fallen, verwandeln
Und Penderecki hat der Gesellschaft viel zu sagen. Während er sein
Werk "Threnos" dem Gedenken an die Opfer von Hiroshima und sein
Oratorium "Dies Irae" den Ermordeten von Auschwitz widmete, begann er
seine Sechste Symphonie als "Elegie auf den sterbenden Wald". "Die
faustische Leidenschaft zu vernichten war noch nie so weit
fortgeschritten", äußerte sich der Komponist in seiner Dankesrede zur
Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Glasgow. "Für einen
Menschen, der sich das Heilige abgewöhnt hatte, bleibt die Natur ein
totes Gebilde, frei von jeglichem transzendentalen Bezug. Der
ökologische Rationalismus kann dabei wenig helfen. Das Aussterben von
Bäumen, Regenwäldern und Dschungeln stellt nicht nur ein biologisches
Problem dar. Die Kultur, die sich gegen den Wald versündigt, zerstört
die eigene Daseinsberechtigung."
Auch wenn sie von Bäumen und Wäldern handelt: Mit der
fortschreitenden Bedrohung der Natur durch die Menschen hat Pendereckis
Achte Symphonie wenig zu tun. Sie ist vielmehr eine lyrische Reflexion
über die Themen Leben und Tod, Einsamkeit, Verwandlung und Verfall.
Blatt um
Blatt
Ihre Gedankenwelt scheint fern und ist unberührt von den
Ereignissen, die nach 1933, dem Geburtsjahr des Komponisten, Europa
erschütterten und für immer veränderten. Ihre Tonsprache ist – trotz
gelegentlicher Zwölftonmelodik, einiger Clusterklänge und eines
deutlichen Bezugs zum Werk Dmitrij Schostakowitschs – tief im
Klangkosmos der Spätromantik verwurzelt. Deutlich scheint immer wieder
das Vorbild Wagner hervor. Mit seiner Achten schuf Penderecki neun
expressive, mal düstere, mal farbige Stimmungsgemälde, die Eichendorffs
nächtliche Waldeinsamkeit und Hesses mondbeglänzte Kastanienbäume mit
Rilkes Memento-mori-Lyrik konfrontieren.
In der oft tonmalerischen Musik hört man schon einmal kräftig die
Linde rauschen, wie in Eichendorffs "Seh’ ich dich wieder, du geliebter
Baum", während Goethes "Sag’ ich’s euch, geliebte Bäume,/ Die ich
ahndevoll gepflanzt?" zum freudig erregten, explosiven Walzer mutiert.
Unerbittlich läuten dagegen in Hesses "Vom Baum des Lebens fällt/ Mir
Blatt um Blatt/ O taumelbunte Welt" die Totenglocken, und Rilkes
berühmtes Gedicht "Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß" kommt
als Lied eines schwermütig intonierenden Baritons daher.
Hinauswachsen über den Tod
Einem tief gläubigen Komponisten wie Penderecki kann es nicht
zusagen, über die Vergänglichkeit nachzudenken, um zu dem Schluss zu
kommen, dass nach dem Tode nichts mehr ist (wie es Schostakowitsch in
seiner 14. Symphonie vorgemacht hat). Nein, vielmehr ist die Achte als
ein weiteres persönliches Glaubensbekenntnis zu verstehen. In der
christlichen Symbolik bietet der Baum mit seiner aufrechten, zum Himmel
weisenden Gestalt ohnehin viele Bezüge.
Er verkörpert in seiner sich immer wieder erneuernden Lebenskraft,
durch sein Absterben und Neuerstehen, den Sieg über den Tod.
Folgerichtig beendet Penderecki seine Achte im festen Glauben an die
Erlösung. Brentanos Gedicht "O grüner Baum des Lebens", das dem Finale
zugrunde liegt, schließt mit den Worten: "Die Welt mir aufgetan/ Der
Geist in Gott erweitert,/ Unendlich ist die Bahn!" Der Komponist
kommentiert das, indem er am Ende seiner Symphonie den Chor und die
Streicher in langsamem Glissando emporsteigen und entschwinden lässt: in
das ewige Leben.
© Verena Großkreutz
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