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Draußen vor der Tür
Das Stuttgarter Staatsorchester wird mit der Realität konfrontiert
Rezension
für die Eßlinger Zeitung vom 13. Oktober 2010
Stuttgart - Das erlebt
die sogenannte bürgerliche Hochkultur selten, dass sie mittendrin ist in
der Widerstandskultur, die in Stuttgart gerade einen so kräftigen
Aufschwung erfährt: In der Liederhalle fanden jetzt zeitgleich zwei
Veranstaltungen statt. Im Mozartsaal sprach Deutsche-Bahn-Chef Rüdiger
Grube auf einer Veranstaltung der IHK vor 750 Unternehmern, im
Beethovensaal fand ein Sinfoniekonzert der Stuttgarter Staatsoper statt.
Und weil Grube zu jenen gehört, die Heiner Geißlers Drängen auf einen
Baustopp nicht nachkommen wollen, gab's vor der Liederhalle eine Menge
Demonstranten, die Grube lautstark an ihre Forderungen erinnerten. Und
wo Stuttgart-21-Gegner sind, gibt es auch ein Großaufgebot an Polizei.
So staunten die Konzertbesucher nicht schlecht, als sie in der Pause
registrierten, dass sämtliche Eingänge der Liederhalle von Polizeiketten
abgeriegelt waren. Nach außen versteht sich, dorthin, wo die
Demonstranten ihr eigenes Konzert auf Trillerpfeifen und Vuvuzelas
gaben. So blieb die harte Realität draußen vor der Tür, und
Generalmusikdirektor Manfred Honeck widmete sich im Beethovensaal seiner
Mission, die schon seit längerem dem Komponisten Werner Braunfels gilt.
Diesmal waren Instrumentalnummern aus Braunfels' Oper "Szenen aus dem
Leben der heiligen Johanna" dran: ein spätromantisches, von Honeck
zusammengestelltes Gestückel aus brucknergrellen Bläser-Blöcken,
Trommeldonner und Streicher-Rahm, aus zuckender Übergangsdramatik und
wagnernder Schicksalsharmonik.
Während so Jeanne d'Arc sinfonisch auf dem Scheiterhaufen
verbrannte, drang an den leisen Stellen immer wieder das Pfeifkonzert
von draußen durch die Mauern, und ein einsames Solo-Cello bekam
ernstzunehmende Konkurrenz durch eine heulende Sirene.
Volkes Stimme ebbte in Mozarts letztem Klavierkonzert ein wenig ab.
Da träumten sich viele Zuhörer mit geschlossenen Augen weit weg. Das
erleichterte ihnen der schöne Piotr Anderszewski am Flügel, der die
wohlproportionierten Melodien und andere schmeichelnde Tongirlanden in
süßliche Pedal-Marinade einlegte. Das Larghetto war so zerdehnt, dass
man, war man nicht an einer musikalischen Wellness-Kur interessiert,
gelegentlich wegschlummerte. Blieb zum Ende Brahms' bärtige Vierte, die
Honeck und das Staatsorchester mit Pathos, Bombast und Zucker-Glasur
zukleisterten, so dass nichts zu hören war von den sich entwickelnden
Variationen.
Nach dem Konzert war auch der Protest vorbei. Die IHK hatte auf
einen Empfang zu Ehren Grubes aufgrund der angespannten Lage verzichtet.
Den Konzertbesuchern, von denen viele Baumfaust- und "Oben
bleiben"-Plaketten am Revers trugen, blieb das unangenehme Gefühl, für
einige Zeit "weggesperrt" gewesen zu sein. Zumal es von Seiten der
Staatsoper keinerlei Erklärungen darüber gegeben hat, warum die
Liederhalle unter so massivem Polizeischutz stand.
© Verena Großkreutz
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