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Denken in Tönen
Vor 200 Jahren starb Joseph Haydn – Zu Lebzeiten ein
musikalischer Experimentator, posthum ein Opfer der Verharmlosung
Artikel für die Eßlinger Zeitung vom 30. Mai 2009
Als Joseph Haydn am 31. Mai 1809 in Wien starb, galt
er als der bedeutendste und berühmteste Komponist der Welt. Das kostete
ihm den Kopf. Nur einige Tage nach seinem Begräbnis auf dem Hundsturmer
Friedhof lag Haydns Schädel auf dem Seziertisch des Wiener Allgemeinen
Spitals zur Präparation bereit. Die Haydn-Verehrer und Hobby-Phrenologen
Joseph Carl Rosenbaum, ehemals Sekretär des Fürsten Eszterházy, und
Johann Nepomuk Peter, Wiener Gefängnisdirektor, hatten Totengräber und
zuständige Beamte bestochen und ein paar Tage nach der Beisetzung des
Komponisten die Graböffnung erwirkt. Das längst der Verwesung
anheimfallende Haupt Haydns wurde vom Rumpf getrennt und mitgenommen.
Rosenbaum und Peter waren Anhänger der damals sehr populären Thesen des
Arztes und Hirnforschers Franz Joseph Gall, nach dessen "Schädellehre"
die spezifische Form eines Kopfes Rückschlüsse auf die Hirnregion und
damit auf die geistige und seelische Verfassung seines Inhabers zulasse.
Rosenbaums und Peters kriminelle Energien wurden aber wohl weniger vom
Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis befeuert als vielmehr von
Totenkult und Heldenverehrung, auch wenn sie später vorgaben, in Haydns
Schädel den "Tonsinn" des Genies dingfest gemacht zu haben.
1820 flog die Leichenenthauptung auf: Das Haus
Eszterházy hatte sich entschlossen, die sterblichen Überreste seines
einstigen Kapellmeisters nach Eisenstadt zu überführen. "Es fand sich
der Leichnam ohne Kopf – und nur die leere Perücke – der Fürst
entrüstet, meldete es gleich dem Polizeyminister", schrieb Rosenbaum in
sein Protokoll. Die Spuren führten den ermittelnden Kommissar schnell zu
den Grabschändern. Um den unangenehmen Nachforschungen ein Ende zu
bereiten, entschieden sich Rosenbaum und Peter für ein
Täuschungsmanöver: Man übergab der Polizei den Totenkopf eines
unbekannten anderen Mannes, die Behörden waren zufrieden, und flugs
hatten Haydns Gebeine fragwürdige Gesellschaft.
Haydns echter Kopf fand erst nach langer Zeit und
einigen Umwegen zu seinem rechtmäßigen Eigentümer zurück: 1954 wurde er
aus dem schicken Holzschrein der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien,
wo er 59 Jahre lang als wertvolle Reliquie gehütet worden war, befreit,
in einem feierlichen Akt nach Eisenstadt überführt und dort im Sarkophag
des Komponisten endlich mit dem Rest des Gerippes vereint.
Kein Metaphysiker
Die makabre, entwürdigende Geschichte um Haydns
Köpfung mag auch als Sinnbild für den posthumen Umgang mit dem Werk des
Komponisten stehen. Denn auch die Rezeptionsgeschichte brachte Haydn um
seinen Verstand. Zu Lebzeiten gefeiert als großer Meister von epochaler
Bedeutung, begann die allgemeine Hochachtung vor seiner Lebensleistung
nach seinem Tode schnell zu verblassen und wich wohlwollender
Herablassung. Sein Werk wurde zwar "als geschichtliches Monument
aufbewahrt, aber zugleich auf einen Entwicklungsschritt reduziert: Haydn
als Vorläufer Beethovens", schreibt der Musikwissenschaftler Ludwig
Finscher in seiner Haydn-Biografie. Bis heute hängt Haydn der Ruf vom
Wegbereiter und Anreger späterer Komponistengenerationen an. Selten ist
die Rede vom "Genie".
Der Auslöser für diese Entwicklung war ein
fundamentaler Wandel in der Musikauffassung: Die romantische
Musikästhetik – repräsentiert durch Wilhelm Heinrich Wackenroder, Ludwig
Tieck und E.T.A. Hoffmann – entwarf eine Metaphysik der
Instrumentalmusik. 1810 schrieb E.T.A. Hoffmann in seiner Rezension der
fünften Sinfonie Beethovens: "Die Musik schließt dem Menschen ein
unbekanntes Reich auf; eine Welt, [...] in der er alle durch Begriffe
bestimmbare Gefühle zurückläßt, um sich dem Unaussprechlichen
hinzugeben." Was Hoffmann in Beethovens Sinfonien aufspürte, nämlich die
"Tiefen des Geisterreichs" und die "Ahnung des Unendlichen", suchte er
bei Haydn vergeblich. Die romantische Musikauffassung, mit der ein bis
dahin unbekannter poetischer, metaphysischer Wesenszug in die
Instrumentalmusik einzog, revolutionierte die Musikgeschichte. Plötzlich
standen das künstlerische Ich und seine Emotionen, der subjektive
Ausdruck, das Verlangen, etwas Einmaliges und nicht Wiederholbares zu
schaffen, im Mittelpunkt. Dieser Geist der Romantik drängte die klare,
feine, hoch differenzierte Musiksprache Haydns in den Hintergrund.
Nichts war Haydn so fremd wie spekulative Metaphysik.
Angesichts dieser Entwicklungen, die im wachsenden
bürgerlichen Musikpublikum auch ein neues gefühlsorientiertes und
assoziatives Hören mit sich brachten, hatte Haydns Musik, "die stets
Denken in Tönen, nicht Dichten in Tönen war", und die deshalb vor allem
Konzentration auf die Strukturen und Prozesse einforderte, einen
schweren Stand, sagt Ludwig Finscher.
Kindliches, heiteres Gemüt?
Die Folge war die Geburt eines fatalen Klischees –
von E.T.A. Hoffmann beispielhaft vorformuliert: "Der Ausdruck eines
kindlichen, heitern Gemüts herrscht in Haydns Kompositionen. Seine
Symphonie führt uns in unabsehbare, grüne Haine, in ein lustiges, buntes
Gewühl glücklicher Menschen. Jünglinge und Mädchen schweben in
Reihentänzen vorüber; lachende Kinder hinter Bäumen, hinter Rosenbüschen
lauschend, werfen sich neckend mit Blumen. Ein Leben voll Liebe, voll
Seligkeit, wie vor der Sünde, in ewiger Jugend; kein Leiden, kein
Schmerz."
Man verwechselte die mal geistreich-witzige, mal
spielerisch-experimentelle Haltung in den Werken Haydns mit einer
vermeintlich naiven, harmlosen, zu tieferen Aussagen nicht befähigten
Musiksprache, man erfreute sich am fröhlichen und volksliedhaften Gestus
mancher Stücke, überhörte aber die komplexen Strukturen, die
beziehungsreichen Geflechte, die sinfonische Wucht, das facettenreiche
Ausdrucksspektrum und die Zielstrebigkeit des musikalischen Prozesses;
kurz: man ignorierte einen musikalischen Kosmos, der in immer wieder
überraschend neue Klangreiche führte.
Ohne Mythen
Hinter den riesigen Dimensionen seines Werkes bleibt
die Persönlichkeit Haydns so blass wie bei keinem anderen großen
Komponisten der neueren Zeit. Man weiß wenig über ihn und seine innere
Biografie. Anders als bei Mozart und Beethoven ist die Quellenlage
spärlich. Um Haydn ranken sich zudem keine Mythen, er war kein
Wunderkind, seine Vita äußerlich klar umrissen: Am 31. März 1732 in
Rohrau in Niederösterreich als Handwerkerkind geboren, gelang ihm der
Aufstieg vom Sängerknaben über den Provinzkapellmeister bis zum
Kapellmeister eines der reichsten Fürsten von Europa und zu einem der
größten Komponisten seiner Zeit.
"Haydn war klein, von kräftiger Statur, mit
auffallend großen, beobachtend und leicht skeptisch blickenden Augen;
sein Gesicht war von Blatternarben gezeichnet, und er fand sich selbst
hässlich, was ihn nicht davon abhielt, seine offenbar beträchtliche
Wirkung auf Frauen zu genießen", schreibt Finscher. Haydns Ehe
scheiterte und blieb kinderlos, Trost fand er regelmäßig bei anderen
Frauen, verhielt sich aber stets sehr diskret. Eigenschaften, die ihm
nachgesagt werden, sind ein ausgeprägtes Talent zur Konversation und zum
Geschichtenerzählen, Humor und Sinn für die Satire, tiefe Religiosität,
ein Hang zu den bürgerlichen Tugenden Ordnung, Reinlichkeit, Fleiß und
Sparsamkeit – und vor allem geistige Beweglichkeit, Vielseitigkeit und
Wissensdurst. Im Umgang mit seinen Musikern bei Hofe galt er als
angenehm und fürsorglich. Dem Adel und Hochadel gegenüber verhielt er
sich geschickt, stellte dabei nicht die hierarchisch strukturierte Welt
in Frage. Als Geschäftsmann zeigte er sich den Verlagen gegenüber
raffiniert, zuweilen sogar skrupellos, wenn er etwa Werke an
verschiedene Verlage gleichzeitig verkaufte. Er war selbstbewusst und
auf Erfolg bedacht, gleichzeitig aber von bescheidenem Charakter.
1760 tritt der 28-Jährige seine Arbeit als
Kapellmeister des Fürsten Eszterházy in Eisenstadt an – zunächst als
zweiter musikalischer Leiter, ab 1766 als Musikchef. Im Dienste der
Eszterházys bleibt er bis zu seinem Lebensende – wenn auch zeitweise und
in den letzten Jahren ohne Verpflichtungen. Sieht man einmal von seinen
beiden Englandreisen in den 1790er-Jahren ab, verbringt er sein Leben
ausschließlich in Wien und Umgebung, in Eisenstadt und auf Schloss
Eszterháza im ländlichen Ungarn.
Der Weg zum autonomen Künstler
Seine Stellung brachte ihm Wohlstand, und bei niemand
anderem zeigt sich der Weg vom Hofmusiker zum autonomen Künstler der
bürgerlichen Gesellschaft so klar und deutlich wie bei ihm. Tief
verwurzelt in der hocharistokratischen Kultur des aufgeklärten
Absolutismus bediente er sein Publikum mit geistvoller Unterhaltung, die
den Hörer fordert – nicht im Sinne der Idee der Absoluten Musik des 19.
Jahrhunderts, sondern gebunden in den Kontext des aktuellen Lebens.
Haydn nimmt besonders in seinen sinfonischen Werken oft Bezug auf den
Alltag des Hochadels: auf Feste, die Jagd oder Theaterspielpläne in
Wien. Er wendet sich aber langsam der bürgerlichen Welt und ihrer
musikalischen Marktwirtschaft zu. Ab den 1780er-Jahren feierten seine
Werke enorme Erfolge in Paris und London. Haydn erkannte die
Breitenwirkung seiner Musik.
Musikalisches Labor
Er hatte sich nicht dazu verleiten lassen, in der
Abgeschiedenheit des Eszterházyschen Hofes selbstgenügsam immer dasselbe
zu reproduzieren. Vielmehr erkannte er die Chance, die ihm der
schwerreiche Hof mit seinen hervorragenden Musikern und seinen
räumlichen Möglichkeiten bot. Ganz im Sinne der Aufklärung wurde ihm
Schloss Eszterháza zum musikalischen Labor und Experimentalstudio. "Mein
Fürst war mit allen meinen Arbeiten zufrieden, ich erhielt Beyfall, ich
konnte als Chef eines Orchesters Versuche machen, beobachten, was den
Eindruck hervorbringt, und was ihn schwächt, also verbessern, zusetzen,
wegschneiden, wagen; ich war von der Welt abgesondert, Niemand in meiner
Nähe konnte mich an mir selbst irre machen und quälen, und so musste ich
original werden", resümierte er selbst.
Es entstand ein Werk von gigantischen Ausmaßen: 106
Sinfonien, 24 Opern, 14 Messen, sechs Oratorien, 83 Streichquartette, 41
Klaviertrios, 21 Streichtrios, 126 Barytontrios, 52 Klaviersonaten,
zahlreiche Konzerte für Klavier und andere Instrumente, diverse
Motetten, Lieder und Kantaten.
Vor allem auf dem Gebiet der Instrumentalmusik kann
Haydns Bedeutung nicht überschätzt werden. Wie in allen wichtigen
Gattungen – etwa der Klaviersonate und dem Streichquartett – durchmisst
Haydn in seinen gut 50 Schaffensjahren vor allem in der Sinfonie einen
radikalen Stilwandel, experimentiert mit den unterschiedlichsten
Formtypen und erarbeitet nach und nach seine unverwechselbare, hoch
differenzierte Idiomatik, die auf Fasslichkeit angelegt ist und
gleichzeitig ein völlig neues musikalisches Vergnügen am geistvollen
Dialog und an intellektuellen Späßen offenbart. Dazu gehört auch die
zyklische Verbindung der vier Sätze untereinander: die innere
sinfonische Logik, die Zusammenhang stiftet zwischen den
kontrastierenden Prinzipien eines explosiven Allegros, eines innigen
Andantes oder Adagios, eines rational-lichten Menuetts und eines vor
kompositorischen Finessen nur so strotzenden Finales. Kein zerstreutes
Hören wie im Barock, sondern Konzentration auf die Sache ist nunmehr
gefragt. Denn Haydns Musik zielt auf die ständige Unterwanderung der
Hörerwartungen.
Intellektualität und Esprit
Beethoven appellierte ans Publikum, wollte
überwältigen. Haydn zwingt einen zu nichts. Große Botschaften zu
verkünden, wie Beethoven, war Haydns Sache nicht. Man muss genau
hinhören: in die feinsinnig durchgearbeiteten Strukturen, in der jede
auch noch so kleine Stimme ihren Eigenwert hat, in die
metrisch-rhythmischen Finessen. Musik von diskursivem Charakter ist das,
in der sich Intellektualität und Esprit offenbaren.
Die Bereitschaft, sich mit geschärften Ohren dem Werk
Haydns jenseits der populären Repertoirestücke – "Die Schöpfung", "Die
Jahreszeiten", einige Sinfonien und Streichquartette – zu nähern, hält
sich auch heute in Grenzen. "Wie triftig immer die Auskünfte über die
Kühnheit und Originalität haydnscher Mittel und Lösungen sein mögen –
unser Ohr bestätigt sie selten spontan; nicht zu reden davon, dass es
hierzu kaum mehr erzogen wird, solange es gewagter erscheint, eine
Haydn-Sinfonie an den Schluss eines Konzertes zu setzen, als sich mit
einem mittleren Orchester am 'Heldenleben' von Strauss zu versuchen",
schrieb der Dirigent und Musikwissenschaftler Peter Gülke im Jahr 1985.
Daran hat sich noch immer nichts grundlegend
geändert. Sieht man einmal vom laufenden Gedenkjahr ab, erklingt Haydns
Musik so gut wie nie als Hauptwerk eines Sinfoniekonzerts. Generationen
von Sinfonieorchestern haben seine Werke zum uninspiriert
heruntergedudelten Einspielstück herabgewürdigt, oft genug schlecht
geprobt. Haydns musikalischer Kosmos aber setzt schnell Staub an und
schrumpft, wenn man seine komplexen Strukturen und den zielstrebigen
Prozess aus den Augen verliert, weil man auf die dringend notwendige
Detailarbeit verzichtet hat. Für eine gute Haydn-Aufführung sei
"Genauigkeit" und "Klangfantasie" die Voraussetzung. Sonst klinge er
langweilig, sagte kürzlich Roger Norrington, der Chefdirigent des
Stuttgarter Radio-Sinfonieorchesters.
Es ist an der Zeit, Haydn auch im Konzertsaal seinen
Kopf wiederzugeben: seinem Geist, seiner kompositorischen Kühnheit und
Vielschichtigkeit ein Podium zu schaffen – durch jene Genauigkeit der
Interpretation und durch offene Ohren. So oft wie möglich. Denn: "Die
Qualität Haydns liegt im Vergnügen des wiederholten Hörens", so der
Haydn-Forscher Gernot Gruber. In diesem Sinne können Gedenkjahre
durchaus von Nutzen sein.
© Verena
Großkreutz
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